Presse
Bild: Erzbischöfliches Ordinariat München
Das Bild kann zu Pressezwecken frei verwendet werden.
„Ein Dorfplatz mit Kirche und Gasthaus“:
Pastoralreferent Ulrich Keller im Gespräch über das haus am ostfriedhof
In München starben im vergangenen Jahr knapp 13000 Menschen. Fast jede und jeder Tote hinterlässt Angehörige und Freunde, die sich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer auseinandersetzen müssen. Der Wandel der gesellschaftlichen Strukturen, die demografische Entwicklung und der enorme Zuwachs an Mobilität erfordern neue Möglichkeiten für Abschiede. Was ändert sich gerade in der Bestattungskultur?
Heute werden die Friedhöfe immer leerer: die Erdbestattungen werden weniger, die Feuerbestattungen nehmen zu. Auch im anschließenden Umgang mit der Urne gibt es heute vielfältige Möglichkeiten der Beisetzung. Jeder kann entscheiden, wo, auf welche Weise und in welcher Form ein Angehöriger bestattet wird. Natürlich besteht in Deutschland noch die Friedhofspflicht, aber es kommt auch vor, dass Räumungsfirmen bei einer Wohnungsauflösung im Regal eine Urne finden.
Wandelt sich heute also auch die Art des Trauerns in der Gesellschaft?
Trauern ist individuell. Jeder und jede trauert anders. Das heißt, die Trauer geht eigene Wege, ohne Einschränkung. Deshalb sind Angebote für Trauerende vielfältig und differenziert: sie können sich heute ja weltweit inspirieren lassen an Formen und Ritualen für den eigenen Trauerweg. Aber durch die Vielfalt an Möglichkeiten ist man heute beinah schon gezwungen, fast alles selbst entscheiden zu müssen. Das kann für Trauernde auch belastend sein.
Wie antworten Sie als Seelsorger auf einen mit dem Tod überforderten Menschen?
Manchmal reicht es, einfach da zu sein, und zuzuhören. Den Gefühlen eines Hinterbliebenen im ersten Moment – und auch danach noch - Aufmerksamkeit schenken. Die Kirche will sich genau diesem Thema in Zukunft an einem eigenen und besonderen Ort stärker zuwenden.
Und hat dafür ein großes Trauerzentrum gebaut am Ostfriedhof. Zu den Zahlen: über 70 Prozent der Münchner lassen sich inzwischen einäschern, Prognosen sagen für die kommenden Jahre bis zu zwölftausend Kremierungen voraus. Das Münchner Krematorium am Ostfriedhof wurde 2022 neu eröffnet, um diese Kapazitäten bereitstellen zu können.
Auch wir reagieren auf diese Zahlen und machen den Hinterbliebenen neue Angebote: man kann an einem einzigen Tag Abschied vom Verstorbenen nehmen, der Kremierung beiwohnen, die Trauerfeier abhalten und die Urne beisetzen. Das ist hier einmalig und das war auch der Impuls, der schließlich zum Bau des „haus am ostfriedhof“ geführt hat.
Das Haus, das jetzt eröffnet wird. Ein Gasthaus und zugleich ein Platz der Trauerseelsorge. Wie passt das zusammen?
Wir wollen den Menschen genau dort, im Gasthaus, ein entsprechendes Angebot machen: einen Ort, an dem man genauso gut Abschied nehmen wie sich unterstützen lassen kann, an dem man auch ins Gespräch kommen und für sich allein sein kann. Wo man begleitet wird und auf Menschen in ähnlichen Situationen trifft. Gemeinsam mit den Kollegen der evangelischen Kirche, dabei ist das Haus auch da für Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen.
Woraus hat sich diese Idee entwickelt?
Seit meiner Zeit als AIDS-Seelsorger in den 1990er Jahren und als Referent für Trauer nehme ich die Bedürfnisse von Trauernden in ihrer existentiellen Herausforderung und den Wunsch nach individueller Begleitung wahr. Auf meine Initiative hin hat sich die Erzdiözese München und Freising mit der Stadt München über die Einrichtung eines Cafés am Ostfriedhof verständigt. Obwohl die Coronazeit das Bauvorhaben etwas hinausgezögert hat, bin ich umso glücklicher, dass wir mit dem „haus am ostfriedhof“ jetzt einen Ort mitten in der Stadt haben, der diesen Bedürfnissen entgegenkommt.
Individuelle Begleitung von Menschen, die gerade etwas Schmerzhaftes erleben, und dies am Rande eines großen Friedhofs. Für den öffentlichen Raum ungewöhnlich. Und auch ungewöhnlich innovativ. Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Das Besondere ist, dass wir am zentralsten Ort von Tod und Trauer in dieser Großstadt Zeit haben für die Menschen. Ein da-sein mit Zeit. Der Friedhof ist ein lebendiger Ort der Kommunikation. Unser Haus soll offen sein für alle, soll Begegnung und Begleitung ermöglichen und in seiner Gastlichkeit jeden und jede einladen, der allein oder in Gemeinschaft Zeit dort verbringen will. Ein Möglichkeitsort von Begegnung, Miteinander und Stärkung.
So kann vielleicht auch der tabuisierte Umgang mit Tod in unserer Gesellschaft überwunden werden. Oder zumindest überbrückt.
Es ist vielleicht ein Anfang. Das Tabu kommt aus der doppelten Isolation, in der sich viele Trauernde befinden: zum einen der eigene Rückzug, die Isolation ins Innere und zugleich der Rückzug der Gesellschaft, die Isolation des Umfeldes, das dem Trauernden nicht zu nahekommen will.
Wer trauert, will ja auch seine Ruhe haben. Das ist zumindest eine weit verbreitete Vorstellung.
Manchmal ist das so, ja. Aber ein belebter, freundlicher Ort ist auch für Trauernde ein guter Anker, eine gute Kraftquelle. Die Wissenschaft weiß heute, dass diese Ressourcen auf einem Trauerweg ganz wesentlich sind. Wir wollen uns das Miteinander in den Gaststuben lebendig vorstellen, und setzen damit der Dunkelheit des Todes etwas entgegen. Unser „haus am ostfriedhof“ ist ein Kontaktplatz, im besten Sinne ein Dorfplatz mit Kirche und Gasthaus.
Immer offen für alle und jeden, und reservieren muss man auch nicht? Das wäre für München eine echte Neuerung!
Wenn Sie so wollen, ja. Die Seelsorge im ganzen Haus und im Café ist zu den Öffnungszeiten erreichbar, auch ohne Termin. Wir sind einfach vor Ort und ansprechbar. Dazu kommen in Zukunft kulturelle Veranstaltungen zur Trauer- und Erinnerungskultur und verschiedene Angebote für Gruppen.
Jeder Verlust ist ein individueller für die Hinterbliebenen. Besonders schwer ist es, verwaisten Eltern oder Angehörigen nach Suizid Trost zu spenden. Sind auch sie gut aufgehoben im neuen Trauerzentrum?
Die Begleitung der Trauernden ist unsere Grundkompetenz: Gespräche, Rituale, Spiritualität. Zunächst mal unabhängig von Todesursachen. Wenn verwaiste Eltern fragen: Ich bin nicht gläubig, aber ich will wissen, wo mein Kind jetzt ist, dann gibt es keine schnelle Antwort, aber wir können uns gemeinsam mit ihnen auf den Weg machen.
Und die Trauernden dabei begleiten, in die Normalität, also auch ins Gasthaus zu gehen.
Es wird ein lebendiges und buntes Miteinander in der integrativen Gastronomie von Conviva als Ort der Begegnung. An allen Tagen des Jahres ist der Friedhof inzwischen ein Ort für Erholungssuchende, Spaziergänger. Jetzt auch noch für Menschen, die gutes Essen schätzen, genauso für alleinlebende Senioren aus der Nachbarschaft in Obergiesing oder Mitarbeiter des Friedhofs, für die Grabpfleger genauso wie für Bestatter, Familien oder Besucher der historischen Kaskadenanlage. Mit der Conviva und ihrer Sommerterrasse schaffen wir im Stadtviertel auch einen den Leib stärkenden und sogar kulinarischen Treffpunkt.
Nun stelle ich mir also vor, dass ein naher Angehöriger im Krematorium eingeäschert wird. Ich nehme am Sarg Abschied, er wird eingefahren. Das ist wohl der schwerste Moment. Und wohin kann ich mich dann wenden?
Gleich nach nebenan. Seelsorgerinnen und Seelsorger sind während der Öffnungszeiten unserer Gastronomie, also von Montag bis Sonntag und auch an allen Feiertagen vor Ort und bieten jedem und jeder die Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Im Café oder in einem unserer Räume. Am Tag der Einäscherung ist das Haus für Sie als Abschiednehmende ein Ort der besinnlichen Stille oder des Gesprächs. Auch für Ihre Trauergesellschaft, die vielleicht dort zum Leichenschmaus einlädt. Und anschließend könnten Sie die Urne bestatten. Die Familien leben heute so weit verstreut, dass ein gemeinsamer Abschied an einem Tag für manche hilfreich sein könnte.
Das Haus der Trauer also als Haus für die Lebenden, die Sie in ihrem akuten Trauerprozess unterstützen und auch zusammenbringen wollen.
Genau dies ist die Grundidee des Hauses! Lassen Sie mich dazu etwas ausholen: Jeder Mensch, der ein tragisches Ereignis erlebt, muss etwas haben, was ihn trägt und stützt. Die Aufgabe von Seelsorge besteht darin, dieses Stützende im Menschen zu finden und es mit ihm zu fördern, damit er es für sich nutzen und ans Licht holen kann. Dieser spirituelle Aspekt der Trauer wird in den bekannten Publikationen zum Thema oftmals vernachlässigt. In der ganz individuellen Verarbeitung von einschneidenden, schweren Ereignissen kann Trost oder Begleitung oft nicht angenommen werden. Auch wird danach nicht explizit verlangt, denn der oder die Trauernde befindet sich im Ausnahmezustand. Somit kann die pure Anwesenheit eines Seelsorgers am Ort des Abschieds eine Möglichkeit sein, die Trauernden in ihrer Verfasstheit zu begleiten, sie zu stärken, ohne sie zur Aktivität zu nötigen.
Wiederum kann Trauer sich in ihrer Individualität auch als Leichtigkeit und Freude äußern, wenn die Hinterbliebenen durch den Tod Erleichterung erleben, für sich wie für den Verstorbenen. Gute Erinnerungen, Dankbarkeit für ein gutes Leben und die Verbindung zu anderen Menschen können im Moment der Trauer auch vorherrschen.
Wie spiegelt sich der spirituelle Moment in der Architektur des Hauses?
Der Trauernde wandelt zwischen zwei Extremen: dem Raum der Hoffnung und dem des Schmerzes, dem Licht und der Dunkelheit. Im Zwischenraum, dort ist die Seelsorge verortet: dieser Raum steht für die Spiritualität, Erdung und Transzendenz – wir haben dafür eine von oben nach unten durchgehende Lichtvertikale als Andeutung des Zwischenraums gestaltet. Daran kann man sich auf drei Ebenen aufhalten, sitzen und ein Gespräch führen, gedenken, allein oder mit anderen. Im Untergeschoss findet man sogar einen digitalen Gedenkort. Dort kann man sich am Grund der Lichtvertikale, am Wasser, niederlassen.
In der Stadt München beschäftigen sich ja viele Akteure mit dem Thema Trauer. Inwieweit kooperieren Sie mit ihnen?
Wir tauschen uns regelmäßig aus. In unserem städtischen Arbeitskreis des „Netzwerks Trauerbegleitung“ beschäftigen wir uns mit Fragen wie etwa der ärztlich festzustellenden Diagnose der „anhaltenden Trauerstörung“, oder der Abgrenzung von Trauer zu psychischen Krankheiten. Wer ist dafür zuständig? Bei welchen Ärzten sind diese Menschen, deren Trauer kein Ende nimmt, gut aufgehoben, wann und wo sind anderen Unterstützungsangebote angebracht. Könnten sie sich nicht auch zudem an Seelsorger wenden, die dazu langfristig mit Trauer und ihren komplexen Auswirkungen umzugehen wissen?
Können auch Menschen anderer Konfessionen in Ihrem Haus Unterstützung finden?
Bei Belastung jeder Art sehe ich Spiritualität als eine Grundressource. Sie ist für viele Menschen eine Brücke wieder zurück ins Leben, die Konfession ist dabei nachrangig. Auf dem Trauerweg geht es darum, dass der Mensch, der einen Verlust erlebt hat, die Erinnerung und damit sich selbst dem Wandel anvertraut.
Das vergangene Erleben wird also nicht losgelassen, sondern in die Gegenwart transportiert.
Genau. Durch den Trauerprozess verändert sich der Trauernde selbst. Er nimmt in sein Leben die Erinnerung mit hinein. Und auch die Kirche ist eine Institution der Erinnerung: Wir erinnern uns in jedem Gottesdienst an unsere Verstorbenen, wie haben eigene Gedenktage, nehmen also unsere Vorfahren genealogisch mit hinein in das Heute. Insofern kann man die Kirche als Institution betrachten, die eine lange Geschichte der Trauer- und Erinnerungskultur hat. Mit dem „haus am ostfriedhof“ setzen wir einen neuen Schwerpunkt, der den Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft und dem einzelnen Menschen in seiner individuellen Trauer entsprechen soll.
Das Gespräch führte Julia Cortis, freie Journalistin.